Dave Gahan mit viel Gefühl

Sonic Seducer 06/2003

by Jennifer Kühr

 

Lange hat man auf die Soloschritte des Depeche Mode-Frontmanns Dave Gahan warten müssen. Als erste Gerüchte über ein kommendes Soloalbum die Runde machten, war die Spannung dementsprechend groß, denn Dave schickte sich an, zum ersten Mal selbst sein Talent als Songschreiber der Öffentlichkeit zu präsentieren. Daß auch seine eigenen Ansprüche an das nun vorliegende Debüt „Paper Monsters“ groß waren, konnten wir in einem ausführlichen Gespräch in Erfahrung bringen.

 

So ruft die Aussage, Rick Rubin hätte Interesse bekundet, das Debüt David Gahans zu produzieren, man sei allerdings der Meinung gewesen, daß die Zusammenarbeit nicht gut gehen würde, im ersten Moment Erstaunen hervor. Rubin ist immerhin eine der Schlüsselfiguren im Musikgeschäft und hat mit seiner erneuten Arbeit für Johnny Cash auf diesen „American Recordings“ seinen Status gerade wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Aber nein, dahinter steckt keine Arroganz, denn die Begründung, die stehenden Fußes folgt, ist mehr als einleuchtend: „Ich wollte mit jemandem zusammenarbeiten, der die ganze Zeit in den Arbeitsprozeß involviert ist und nicht wie diese großen Produzenten arbeitet, die nur manchmal vorbeikommen, um zu sehen, was man so macht.“ Ken Thomas, auf den die Wahl fiel, arbeitet nur an Dingen, die ihm ein gutes Gefühl geben, und genau dies erreichten die vier Stücke von „Paper Monsters“, die er vorab zu hören bekam. Sein Interesse war geweckt, genau dieses Album wollte er produzieren.

 

Wer ist aber dieser ominöse Ken Thomas, und wie kam es letztendlich zu der Zusammenarbeit mit Mister Gahan? Die Frage scheint gar nicht so unbegründet, wenn man bedenkt, daß Dave selbst mit diesem Namen erst gar nichts anfangen konnte. Ursprünglich hatter der Wahl- New Yorker Gahan vor, bei der ersten Soloscheibe mit Longtime-Favorit-Depeche Mode-Producer Flood (u.a. 1986 „A Question of Lust“ Remix, „Violator“ und „Songs of Faith and Devotion“) zusammenzuarbeiten. Die Wahl erschien ihm selbstverständlich und Flood, mit bürgerlichen Namen Mark Ellis, wurde tatsächlich mit einbezogen und schenkte einigen Songs sein Gehör. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt mit Arbeit bereits vollkommen ausgelastet, so daß nach einer anderen Lösung gesucht werden mußte. Die Entscheidung wurde mit Mute-Gründer Daniel Miller gemeinsam getroffen, der die einfache Frage nach Daves derzeitigen musikalischen Vorlieben aufwarf, wobei der Name Sigur Ros fiel. Die aus Island stammende Band hatte bei Dave mit ihrer sphärischen, sehr organischen Musik großen Anklang gefunden. Wer also war für das letzte Kunstwerk jener Band mitverantwortlich? Bei einem Blick auf das Albumcover fand Dave die Lösung: „Ich habe mir das Album angesehen und konnte erst gar nichts entdecken, bis ich dann diesen kleingedruckten Namen Ken Thomas fand.“ Ken hatte bereits mit Künstlern aus den verschiedensten musikalischen Genres zusammengearbeitet, David Bowie, den Einstürzenden Neubauten und vielen anderen. Schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit Dave spürten beide, daß die Chemie zwischen ihnen stimmte. Dem eingefleischten Depeche Mode  Fan allerdings wird der Name Ken Thomas vielleicht eher etwas sagen als Dave selbst: „Er arbeitete vor langer Zeit an einem Remix zu „A Question of Time“ von Depeche Mode, was ich nicht gewußt hatte. Als ich es erfuhr, konnte ich nur ´Oh´ dazu sagen.“

 

Kens Einstellung, nur noch Dinge zu tun, die ihm ein gutes Gefühl geben, brachte genau den Funken Enthusiasmus, den Dave brauchte. So einfach, wie mancher sich das vielleicht vorstellen mag, ist es nämlich auch für einen seit Jahren in einer berühmten Band agierenden Musiker, der im Laufe seiner Karriere sicher viele Erfahrungen gesammelt hat, letztendlich nicht, ein ganz eigenes Werk zu entwerfen. Tatsächlich gab es für Dave während der Entstehung von „Paper Monsters“ nicht nur einmall den Punkt, an dem er am liebsten alles hingeschmissen hätte. „Oh ja, es gab einige Momente, in denen ich aufgeben wollte. Definitiv während des Songschreibens, als ich mit Knox zusammen bereits an die zehn Songs geschrieben hatte und Daniel sich die Lieder anhörte und mir sagte, ich solle wieder gehen und noch mehr Stücke schreiben. Ich erinnere mich daran, wie ich eigentlich dachte, daß ich wirklich genug Songs geschrieben hätte und wir mit den Aufnahmen anfangen könnten.“ Im Nachhinein ist man bekanntlich immer schlauer und so erging es auch Dave, denn durch Daniels Hartnäckigkeit entstand anschließend „A Little Piece“, was laut Daves Aussage eines seiner ganz besonderen Lieblingsstücke geworden ist. „Ich fühlte wirklich, daß dieser Song einer von der Sorte war, die ein eigenes Leben haben. Es kam einfach alles durch mich hindurch, ich mußte alles ganz schnell aufschreiben, ich sang auf einmal beinahe den ganzen Song, die Melodie und einfach alles.“ Außerdem erhielt Dave durch die zusätzlich geschrieben Songs am Ende die Möglichkeit, die zehn stärksten im Empire View und Electric Lady Studio in New York aufgenommene Stücke für das Album auszusuchen. Um solche Songs entstehen zu lassen, braucht es ein ganzes Team – Dave Gahan, Ken Thomas, der Programmierer Jon Chollyer und Knox Chandler bildeten dieses.

 

Eine Produktion kann nur dann gut sein, wenn die Beteiligten auch Gefühl in die Angelegenheit stecken und nicht nur ihr musikalisches Können einbringen. In Bezug auf „Paper Monsters“ ist „Fühlen“ das Schlüsselwort füe Dave, denn er hatte nicht nur die Idee, wie das Album klingen sollte, er wußte, wie es sich anfühlen sollte. Obwohl nicht alle Ideen in die Tat umgesetzt werden konnten – David hätte zum Beispiel gerne mit Gospelsängern zusammengearbeitet – zeichnet sich „Paper Monsters“ durch eine Vielzahl organischer Soundelemente wie unter anderem ein Streichquintett aus. Ein ganzes Orchester hatte das Album aber nicht nötig, schließlich sollte es seine Intimität bewahren und den Hörer innerlich bewegen. „Gefühle waren auf dieser Platte wirklich wichtig, man fühlt etwas in sich und es bewegt einen innerlich. Für mich ist es wirklich wichtig, daß dies ein Album geworden ist, bei dem man, wenn man es hört, das Gefühl hat, daß man ein Teil davon ist.“

 

Am Anfang stand dabei auch die Visualisierung – Dave auf der Bühne, das war sein Grundgedanke, der Ausgangspunkt für jeden einzelnen Song. Auch der Aufnahmeprozeß scheint beinahe einer Jamsession geglichen zu haben: „Eine Menge ergab sich aus der Performance im Studio. Einer von uns spielte auf einem Instrument und plötzlich waren Elemente eines Songs da. Ken ist die Art von Produzent, dem du etwas vorspielen mußt. Er gehört nicht zu der Sorte, die mit dem Programmierer dasitzen, welcher dann alles selbstständig perfekt macht und es an der richtigen Stelle zusammenfügt. Es war mehr so, daß sie eine Atmosphäre um meine Ideen herum schufen.“

 

So verwundert auch die Aussage auf dem Albumcover „All songs written by Dave Gahan and Knox Chandler“ nicht mehr. Dave schrieb zwar alle Lyrics und die Stimmmelodien, aber musikalisch sorgte Knox für die entsprechende Inspiration. „Es war eine ausgewogene Zusammenarbeit. Das, was Knox beitrug, war genauso wichtig wie das, was von mir kam. Er gab mir die musikalische Inspiration zu meinen Ideen.“ Die Vielseitigkeit der Instrumente, derer Knox Chandler Herr ist, darunter Baß, Cello und Gitarre, animierte Dave zu neuen Ideen. Genau diese spontanen Einflüsse und kreativen Ideen verschiedener Musiker kommen nach Gahans Geschmack bei Depeche Mode zu kurz. „Ich fühle, daß wir uns alle der Idee des Experimentierens mehr öffnen könnten und musikalisch in das, was wir tun, andere Leute und deren Gefühle stärker mit einbeziehen sollten.“

 

Bei „Paper Monsters“ führte diese Arbeitsweise zu gefühlvollen Songs, die alle ein Stück Daves Persönlichkeit repräsentieren, wie zum Bespiel die Ballade „Stay“, deren Entstehung durch die Emotionen inspiriert wurde, die die Geburt von Daves Tochter Stella Rose im Juli 1999 bei dem stolzen Vater auslösten. Wenn es in dem bluesig angehauchten „Bottle Living“, für dessen Atmosphäre nicht zuletzt selbst eingespielte Mundharmonika-Sounds sorgen, heißt „Living for the bottle, he´ll be sitting there all week, so call before you drown“ erinnert dies den aufmerksamen Hörer sehr an die 1997 von Dave getroffenen Interviewaussagen zum Thema seiner ehemaligen Drogensucht: „Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich eine Wahl gehabt hatte, das war das Problem. Aber ich fand heraus, daß da eine Wahlmöglichkeit ist, es geht nur darum, wirklich nach Hilfe zu fragen.“

 

Gerade hat Depeche Mode-Kollege Martin L. Gore mit seinem Solo-Coveralbum „Counterfeit 2“ seine beiden Deutschlandkonzerte mit Bravour absolviert und ist dabei auf Nummer sicher gegangen: Er hat das hauptsächlich aus Depeche Mode-Fans bestehende Publikum vollstens damit zufriedengestellt, daß sein Set aus insgesamt neun Depeche Mode Songs – bei denen der Beifall der Zuschauer deutlich hörbar anschwoll – und nur sieben Songs seiner aktuellen Scheibe bestand. Auch bei Dave werden die Konzerthallen mit einer Menge Depeche Fans gefüllt sein, er macht sich aber keinerlei Gedanken darum, daß die meisten zahlenden Gäste ausschließlich auf Grund der Mode Songs, die er zum besten geben wird, erscheinen könnten. Schließlich gäbe es für ihn keinen Anlaß, warum jemand, der Depeche Mode mag, nicht auch von „Paper Monsters“ begeistert sein sollte: „Wenn man Gefallen an der Musik von Depeche Mode gefunden hat, gibt es keinen Grund, warum man nicht auch Spaß haben sollte an meinen Konzerten, meine Stimme ist doch dieselbe.“ Womit er natürlich recht hat, allerdings kommt es wohl nicht nur auf die identische Stimme an, denn sonst hätte der Unzahl gefloppter Soloprojekte der Popgeschichte ebenfalls ein besserer Erfolg beschieden sein müssen. Ein wenig überheblich klingt es dann auch, wenn Mister Gahan verlauten läßt: „Ich bin nicht wirklich besorgt. Ich glaube, daß viele der Fans, die kommen werden, um mich zu sehen, genauso Fans von Dave Gahan sind wie sie es von Depeche Mode sind.“ Mit dem anschließenden Lob an die Fans „Meine Fans sind sehr loyal“ wird jedoch klar, daß Dave es nicht überheblich gemeint hat, sondern daß er diese Aussage in Bezug auf die Erfahrung mit den vielen treuen Fans gemacht hat, die seit Jahren im Umfeld von Depeche zu finden sind.

 

Dem erfahrenen Frontmann wird es sicherlich gelingen, das Publikum zu fesseln. Schließlich wird Dave zum ersten Mal nicht die Songs eines anderen singen, zum ersten Mal verleiht er nicht seine Stimme sondern ist in der Lage, damit seinen eigenen Texten Ausdruck zu geben. Dieses Gefühl empfindet er schlicht und ergreifend als befreiend und während er sagt „Es fühlt sich wie die selbstverständlichste Sache an, die ich jemals gemacht habe“ kann man förmlich spüren, wie wichtig ihm dieser Zustand ist und was ihm in der Vergangenheit gefehlt hat. Spricht David in Bezug auf sein Album von Intimität, bezieht sich das auch auf seine Solokonzerte: „Ich wollte mit ´Paper Monsters´ nicht in die großen Arenen, ich hatte das Gefühl, daß ich es etwas intimer halten sollte.“ Zwar wird Dave auf einigen der größten Festivals Europas – in Deutschland bei Rock im Park und Rock am Ring – sowie in größeren osteuropäischen Hallen seine Show zum besten geben, aber die meisten Sologigs finden in kleineren Venues statt.

 

Auf Festivals war Dave schon des längeren nicht mehr live auf der Bühne zu sehen, von einem eher unrühmlichen Gastauftritt mit Primal Scream auf dem Reading Festival, der nun auch schon beinahe zehn Jahre zurückliegt, einmal abgesehen. Dafür, daß er es jetzt in Angriff nimmt, gibt es eine einfache Erklärung: „In erster Linie wollte ich eine Tour machen, die Spaß macht, und das beinhaltet, Dinge zu tun, die ich schon lange Zeit nicht mehr gemacht habe.“ Spaß haben werden sicher alle, die Dave live erleben können, denn wie schon erwähnt entstand „Paper Monsters“ schon unter dem Gedanken, einmal live dargeboten zu werden. Somit ist auch die Songanordnung auf dem Album so gewählt wie für Mister Gahan ein guter Gig erstellt sein sollte: Es gibt einen Anfang, der mit „Dirty Sticky Floors“, dem schnellsten Stück der Scheibe, gut einheizen wird, einen Mittelteil und ein Ende. Darin werden drei bis vier Depeche Mode Stücke eingewoben sein, bei denen es sich sogar um Daves Bearbeitungen der Stücke handeln wird: „Es werden meine eigenen Versionen sein. Ich meine, es ist ja auch eine andere Band. Die Songs, die ich auswählen werde, werden auf jeden Fall diejenigen sein, die ich am liebsten spiele.“ Auch an diesem Punkt bleibt die Show also spannend.

 

Ansonsten wird man neben Dave Martyn le Noble (Porno for Pyros) am Baß, Victor Indrizzo (The Dizz), der auch auf „Paper Monsters“ sein Können unter Beweis gestellt hat, an den Drums, Knox Chandler – Gitarre und Cello – und Vince Jones am Keyboard auf der Bühne sehen können. An sich hätte Dave übrigens durchaus Lust gehabt, sogar sein Bühnenbild selbst zu erstellen, denn seine Kreativität begrenzt sich nicht nur auf den musikalischen Bereich, aber hierfür fehlte ihm die Zeit. Das wichtigste in seinem Leben ist ihm heute seine Familie und die Zeit, die er mit ihr verbringen kann – jede Zusatzaufgabe würde bedeuten, einen Teil dieser wertvollen Zeit wieder abzugeben, wozu er im Moment nicht bereit ist. Allerdings gibt er zu, sein kreatives Potential doch nicht ganz stoppen zu können: „Ich war bei dem Video zu ´Dirty Sticky Floors´ viel stärker kreativ eingebunden und ganz sicher auch beim Artwork, ich habe eine Menge visuelle Ideen.“

 

Nun wird für das Stagedesign Paul Normandale, der mehrfach „Lighting Designer Of The Year“ gewesen ist und zum Beispiel 2001 während der „Exciter“-Tour schon mit Depeche Mode gearbeitet hat, verantwortlich sein. Zum Erscheinungsdatum dieses Artikels wird Paul, mit dem Dave sich eine Woche nach dem Interview in London traf, schon eine Reihe von Vorschlägen zur Präsentation on stage gemacht haben. Die Richtung, in die es visuell gehen soll, war Dave aber bereits klar: Nichts Überdimensionales oder durch futuristische Projektionen geprägtes, auch wenn dies auf einigen Festivals fast zwangsläufig zum Bühnenequipment gehört. „Ich möchte wirklich, daß sich alles darauf konzentriert, mein neues Album mit ein paar eingestreuten Depeche Mode Songs zu performen.“ Wer dies verpaßt, dem läßt Dave übrigens noch die Hoffnung, daß er selbst den Wunsch hegt, am Ende des Jahres weitere Konzerte anhängen zu können, sowohl in Amerika als auch in Europa. Die Fortsetzung des ausführlichen Gesprächs gibt es jedenfalls schon in der Juli/August-Ausgabe zu lesen.

 


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